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Heimkinder

"Dann hätten die Peiniger gewonnen"

Er wuchs im Heim auf, wurde dort misshandelt und missbraucht.

Jetzt hilft Uwe Werner Menschen, die wie er gelitten haben – und klagt über bürokratische Schikanen.

(Aus "Zeit Online" von Christiane Florin - 04.01.2015)

Uwe Werner will kein Opfer sein. Am Esstisch in der Einzimmerwohnung lehnen Krücken. Der 62-Jährige taumelt beim Gehen, es fällt ihm schwer, das Gleichgewicht zu halten. Eine Folge der Ohrfeigen, die er als Kind im Heim bekam. Seit einigen Jahren spürt er eine Lähmung in den Füßen. Polyneuropathie, sagen die Ärzte. Heute sind nur die Füße taub, irgendwann könnte es der ganze Körper sein. Die Ärmel des Karohemdes hat Werner hochgekrempelt, über dem weißen T-Shirt unter dem offenen Kragen blitzt eine silberne Kette mit Anhänger. Die Haare trägt er stoppelkurz. "Wenn ich zuließe, dass ich mein Inneres gleich auf den ersten Blick nach außen kehre", sagt er, "dann hätten die Peiniger gewonnen." Sein Inneres, das sind 13 Jahre in zwei Heimen, ein Jahr bei seiner alkoholkranken Mutter und zwei Jahre im Gefängnis. Das sind Aktenordner voller Gutachten, Anträge, Rechtsbelehrungen. Das sind Trauma- und Gesprächstherapien.

 

Etwa 800.000 Kinder und Jugendliche lebten wie Uwe Werner zwischen 1949 und 1975 in westdeutschen Heimen. Am 31.12.2014 lief die Frist für Anträge an den Fonds Heimerziehung West ab. Der wurde von Bund, westdeutschen Ländern und Kirchen eingerichtet, nachdem die Gewalt in Heimen bekannt geworden war. Wenn die letzten Formulare abgearbeitet sind, interessiert sich niemand mehr für die Schicksale. Uwe Werner schon.

Ein paar Tage vor Heiligabend kämpft er mit den Tränen. Weihnachten tut ihm weh. Er steht vom Esstisch auf, geht hinüber zu seinem Computer und zeigt ein Video. "Es ist für uns eine Zeit angekommen, die bringt uns eine große Freud", singt ein Kinderchor. Den Link zum Lied hat er seinen Freunden per Mail geschickt. Warum macht ihn die Freud traurig? Er schweigt lange. Nein, nicht, weil die anderen Familien haben und er nicht, sagt er schließlich. Nein, auch nicht, weil er sich mit Stille schwertut. Er mag es, wenn sich an den Feiertagen die Ruhe über die gesichtslose Wohnsiedlung am Rande von Mönchengladbach legt. Er macht Kerzen an, kocht sich etwas Schönes und sieht fern. Er hat extra ein paar Packungen Zigaretten mehr im Haus, falls ehemalige Heimkinder vorbeikommen. Jetzt, im Gespräch, raucht er kein einziges Mal. "Das ist immer so, wenn ich konzentriert erzähle", sagt er.

Uwe Werner hat viel zu erzählen. Wo anfangen? Vielleicht mit dem 13-jährigen Uwe. Der sagt dem Jugendamt einen folgenschweren Satz: "Ich will wieder ins Heim." Da hat er seine Mutter gerade erst kennengelernt. Gleich nach der Geburt hatte sie ihn weggegeben. Sein Zuhause wird das katholische Vinzenz-Heim in Bochum. Wie alle unehelichen Kinder gilt er den Ordensfrauen als Frucht der Sünde, doch Uwe ist besonders verdächtig: Man hält ihn für evangelisch; dabei ist er ungetauft, wie sich später herausstellt. Prügel bekommt er von fast allen Ordensschwestern. Die Küchennonne fürchtet er am meisten, sie schlägt mit der Peitsche zu. Nur bei Schwester Ehrenburga spürt er so etwas wie Geborgenheit. "Ehrenburga ist eine Heilige", schwärmt er. Dabei haut auch sie zu, wenn Kinder nicht gehorchen. "Klapse" nennt Uwe Werner ihre Schläge milde.

Als er zwölf ist, geben ihn die Vinzentinerinnen zu seiner Mutter zurück. "Besser ein schlechtes Elternhaus als gar keines", sagen sie. Sein Elternhaus sei eine "Bruchbude" gewesen. Der Junge schläft auf einer alten Couch in der Küche. Morgens hilft er der Mutter beim Zeitungsaustragen. Wenn sie es nicht schafft, zeitig aufzustehen, weil sie am Abend zuvor getrunken hat, übernimmt er ihre Runde. Oft holt er sie aus der Kneipe ab. Einmal liegt sie betrunken vor dem Lokal im Schnee. Drei Kilometer schleppt er sie nach Hause. "Zum Dank hat sie mich verprügelt."

Uwe Werner schaut auf das Feuerzeug, das vor ihm auf dem Tisch liegt. Mit "dieser Frau" habe er abgeschlossen, sagt er. Erst versuchte er zu verstehen, warum sie trinkt. Jetzt sagt er: "Sie war keine Mutter." Doch er hat nur sie. Den Vater sucht er vergeblich. Wegen "Mehrfachverkehrs" der Mutter könne der Vater nicht festgestellt werden, liest er später in den Akten. Nach einem Jahr bei der Mutter meldet er sich beim Jugendamt. "Ich wollte nur weg."

Doch was ihn im Knabenheim Westuffeln, einer evangelischen Einrichtung in Westfalen, erwartet, ahnt er damals nicht. Prügel und Drangsalierungen kennt er von den Nonnen und seiner Mutter. In Westuffeln aber gibt es noch andere Strafen: Da bestellt sich der Heimleiter, ein Diakon der Bruderschaft Nazareth, jeden Abend einen anderen Jungen auf sein Zimmer und missbraucht ihn. Am Vorabend seiner Konfirmation ist auch Uwe Werner an der Reihe. "Ich musste ihn befriedigen." Am Tag danach, bei der Konfirmation, legt ihm der Geistliche als Pate die Hand auf. "Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es etwas Schlimmeres geben konnte als das Heim, in dem ich war."

Fast 50 Jahre ist das her. Heute streitet Werner für die Rechte ehemaliger Heimkinder. Er hört ihnen zu, erledigt Papierkram. Viele können auch nach Jahrzehnten kaum über die Erlebnisse sprechen. Eingeschüchtert kauern sie auf dem Bett oder im Sessel, wenn er sie besucht. "Mein eigenes Schicksal relativiert sich, wenn ich ihre Geschichten höre", sagt er. Viele verwahrloste Wohnungen hat er gesehen; seine ist aufgeräumt, der Laminatboden glänzt.

Ehemalige Heimkinder sind keine abgezockten Lobbyisten

Werner kämpft für viele, aber er kämpft allein. Zwar gibt es einen Verein ehemaliger Heimkinder VEH. Doch mit dem liegt Uwe Werner im Streit. Kurzzeitig gehörte er sogar dem Vorstand des VEH an. Dann kam heraus: Er hatte für Beratungen Geld genommen. Zweimal 40 Euro Aufwandsentschädigung. "Sich Hilfe bezahlen zu lassen ist in einem gemeinnützigen Verein verboten", sagt der VEH-Vorsitzende Dirk Friedrich. Wegen der 40 Euro habe er kein schlechtes Gewissen, sagt Uwe Werner und zieht eine Schachtel hervor. Darin sind Fahrkarten, Kassenbons, manchmal Quittungen über eine einzelne Briefmarke, die er für andere gekauft hat. Er habe sich nicht an Heimkindern bereichert. Nun beschuldigt er seinerseits den VEH, unredlich mit dem Geld von Spendern und Mitgliedern umzugehen. Er hat den Verein verklagt.

Der Streit zeigt, wie schwierig die Arbeit in Opferverbänden ist. Ehemalige Heimkinder sind keine abgezockten Lobbyisten. Neutralität fällt ihnen schwer. Sie sind oft parteiisch, sie sind befangen, sie sind emotional. Immer wieder brechen bei Verhandlungen Verletzungen durch. "Dabei wäre es so wichtig, dass wir alle an einem Strang ziehen", sagt Uwe Werner.

Seit 1999 lebt er in Mönchengladbach. An seinem Balkon weht eine Borussia-Flagge. Den Kaffee trinkt er aus der Borussen-Tasse, am Kleiderständer hängen mehrere Trikots, das Sitzkissen auf seinem Massagestuhl ist Gladbachgrün. Lebensfreude sei für ihn Fußball, sagt er. In der Einzimmerwohnung ist die Essecke zugleich das Büro, neben dem Tisch steht ein Regal voller Ordner. Darin heftet er seine Korrespondenz ab. Er hat vielen geschrieben: dem Papst, dem Zentralrat der Juden, Annette Schavan, der deutschen Botschafterin im Vatikan, und dem CDU-Politiker Wolfgang Bosbach. Er wünscht sich Mitgefühl. Doch er bekommt routiniertes Schweigen.

Ein Bekannter hat ihm den Laptop gespendet. Regelmäßig schreibt er darauf Rundmails an Journalisten und Interessierte. Darin schildert er, was er und andere Heimkinder erlebten. Weil er weiß, dass viele Betroffene keinen E-Mail-Anschluss haben, verteilt er in den letzten Wochen des Jahres Flugblätter mit seiner Telefonnummer am Busbahnhof, dort wo die Abgestürzten schon morgens ihr Bier am Kiosk trinken. "Ehemaliges Heimkind sucht andere ehemalige Heimkinder", steht da. "Meldet euch bitte." Denn die Zeit wird knapp. Nach dem 31. Dezember 2014 sind keine Anträge mehr an den Fonds Heimerziehung West möglich. Rund 120 Millionen Euro hatten Bund, Kirchen und die westlichen Bundesländer seit 2012 bereitgestellt. Daraus werden etwa Zuschüsse zu Therapien bezahlt, außerdem gibt es Rentenersatzleistungen für die Arbeit, die Heimkinder bei Bauern oder in Unternehmen ohne Sozialabgaben leisten mussten. 300 Euro pro Arbeitsmonat stehen den Betroffenen zu.

Nach Angaben des Bundesfamilienministeriums wurden bis zum 30. November dieses Jahres 10 371 ehemaligen Heimkindern Leistungen aus dem Fonds zugesagt oder ausgezahlt. Darüber hinaus warten 6211 Betroffene auf Beratungsgespräche, in denen über ihren Antrag befunden wird. 96 Millionen Euro aus dem Fonds sind bewilligt, rund 83 Millionen wurden ausgezahlt. Doch der Fonds dürfte zu knapp bemessen sein. Die Beteiligten hätten "grundsätzliche Bereitschaft" zur Aufstockung signalisiert, Details würden gerade abgestimmt, erklärt die Pressestelle des Ministeriums auf Anfrage von Christ & Welt.

Bis aus einem Antragsformular eine Mittelzusage wird, vergeht viel Zeit. Die Schädigungen seien glaubhaft zu machen, heißt es lapidar auf der Homepage des Fonds. "Diese Prozedur nimmt Heimkindern noch einmal die Würde", sagt der Vorsitzende des Vereins, Dirk Friedrich. VEH-Kritiker Uwe Werner sieht das genauso. Von "Schikane" spricht er, von erniedrigenden Gesprächen. Neben ihm liegt ein Stapel Umschläge, alles Betroffene, die sich in letzter Minute an ihn gewandt haben, damit er den Datenerfassungsbogen für den Fonds ausfüllt.

Die Ordner mit Werners eigenem Fall stehen aufgereiht im Regal. Anfang 2012 stellt er den ersten Antrag an den Heimfonds, 10 000 Euro bekommt er ausgezahlt. Er braucht ein Hörgerät, weil er von den Ohrfeigen im Heim fast taub wurde, und einen Bandscheibenstuhl. Als die Krankenkasse wider Erwarten einen Teil der Kosten übernimmt, kauft er sich von dem Geld einiges, was er nicht beantragt hatte: eine Gleitsichtbrille, einen Gymnastikball, ein paar Versicherungen. Deswegen hat er nun Ärger: Das zuständige Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben fordert ihn auf, das Geld aus dem Fonds antragsgemäß auszugeben oder zurückzuzahlen.

Die Ämter pochen auf Zweckbestimmung

Was Betroffene schwer durchschaubar finden, erscheint Behörden unkompliziert. "Alle Beteiligten haben sich bemüht, das Verfahren so einfach wie möglich zu gestalten", versichert die Pressesprecherin des Bundesfamilienministeriums. Dem "individuellen Hilfebedarf der Betroffenen" stehe ein "sehr breites Leistungsspektrum zur Verfügung". Zum Nachweis des Heimaufenthalts und "des daraus resultierenden Folgeschadens" genüge die "glaubhafte Schilderung" des Heimkindes. "Wenn es um die Auszahlung der Mittel geht", so das Ministerium, "braucht es jedoch einen Nachweis, denn es handelt sich um Steuergelder."

Uwe Werner wird ungehalten, wenn er das hört. Er weiß manchmal nicht, was mehr schmerzt: die Schläge von damals oder die Kostenvoranschläge, die er beibringen muss, um zu beweisen, dass er jeden Cent vereinbarungsgemäß ausgibt. Sind 10.000 Euro Therapiemittelbeihilfe und 243 Euro monatliche Opferentschädigungsrente angemessen für eine zerstörte Kindheit; für das Taumeln beim Gehen, für das Taumeln im Leben?. "Was wäre so schlimm daran, wenn Heimkinder die 10.000 Euro aus dem Fonds versaufen oder verbrennen? Es wäre für die meisten die erste eigene Entscheidung ihres Lebens!"

Die Zeit der Peinigungen ist für Uwe Werner nach den Jahren im Heim nicht vorbei. Missbrauch erlebt er noch einmal im Erwachsenenalter, ausgerechnet, als er konvertieren will. Seine Heim-Heilige Schwester Ehrenburga hatte immer zu ihm gesagt: "Sieh zu, dass du katholisch wirst." Er wendet sich an zwei Priester. Sie laden ihn eines Abends ein. Im Laufe des Gesprächs wird er immer müder, er schläft ein. "K.-o.-Tropfen", vermutet Werner. Als er erwacht, ist seine Hose geöffnet. Beweise fehlen, öffentlich die Namen der Beschuldigten nennen darf er seit einer Unterlassungserklärung nicht mehr.

Er ringt nicht nur mit den Heimfondshütern, er ringt auch mit der Missbrauchsbürokratie beider Kirchen. "Ich möchte die Betonköpfe betroffen machen." Er sucht Indizien menschlicher Wärme, stattdessen bekommt er juristische Klarstellungen. Die Kluft zwischen ihm, den Ämtern und den Kirchen bleibt. Was in den Briefen als ordnungsgemäß angemahnt wird, empfindet er als zynisch. Er will Selbstbestimmung, die Ämter pochen auf Zweckbestimmung.

Uwe Werner brauchte lange, bis er selbst entscheiden durfte. Die Feldarbeit am Nachmittag nach der Schule ist Zwang. Mit 14 beginnt er eine Bäckerlehre, das Heim will es so. Nach bestandener Gesellenprüfung meldet er sich als Sanitäter bei der Bundesmarine, zum ersten Mal gefällt ihm seine Arbeit. Er bewirbt sich für eine Ausbildung zum Krankenpfleger an der Uniklinik Düsseldorf und wird angenommen. "Ein Paradies" nennt er das freie Leben in der Großstadt. Aus Liebe lässt er es zurück. Er zieht mit seiner holländischen Freundin in die Niederlande, bildet sich fort und arbeitet in Den Haag als Krankenpfleger. Ihr erzählt er nichts von der Zeit im Heim. "Das ging nicht, ich konnte keinen Menschen so nah an mich heranlassen." Als ihm die Beziehung zur Freundin zu eng wird, verlässt er Holland über Nacht. Allein. Ein Koffer reicht ihm für seine Habseligkeiten.

Es folgen Jahre, über die Werner ungern redet. Das Glaubensgespräch mit geöffneter Hose fällt in diese Zeit. Wenn du Geld hast, ist egal, wer du bist, redet er sich ein. Er stellt gefälschte Schecks aus, der Betrug fliegt auf. Das Gericht verurteilt ihn auf Bewährung. Weil er gegen die Auflagen verstößt, muss er ins Gefängnis. Der Richter will wissen, wie seine Kindheit war. Das hat ihn früher niemand gefragt und jetzt tut es nichts zur Sache, denkt Werner.

Nach der Entlassung betreibt er ein Internetcafé. "Meine schönste Zeit", schwärmt er. Die Bezeichnung "selbstständig" gefällt ihm, sie klingt wie ein Protest gegen Fremdbestimmung. Wegen der Polyneuropathie kann er seit 2011 nicht mehr arbeiten. Seine Aufgabe sind nun die Heimkinder. "Ich bin wie ein Historiker. Ich recherchiere", sagt er. Nach dem 31. Dezember bricht ein Teil seiner Aufgabe weg. Doch eine neue ist in Sicht. Zu Weihnachten schenkt ihm ein Freund eine Videokamera. Damit will er einen Dokumentarfilm drehen über die Geschichte der Heime Mönchengladbachs in der Nazi-Zeit. Auch kirchliche Heime haben Kinder in den Tod geschickt, sagt er. Es gab eine Zeit, da hing in seiner Wohnung ein Kreuz. Er hat es wieder abgehängt. Katholisch ist er trotz allem vor einigen Jahren geworden. Wegen Schwester Ehrenburga, und damit er Bischöfen sagen kann: Ich bin einer von euch.

Der Papst hat ihm nicht geantwortet, Annette Schavan konnte auch nicht helfen. Wolfgang Bosbach hat einen Kollegen aus dem Bundestag gebeten, Uwe Werner zu schreiben. Von Bedauern über das Leid der Kinder ist in dessen Brief die Rede und von "Rechtsfrieden". Uwe Werner traut dem Frieden nicht.

Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-01/heimkinder-fonds-missbrauch-entschaedigung/komplettansicht

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